DAS THEMA
Das Philipp-Melanchthon-Gymnasium in Gerstungen bekommt am Freitag, 13. November, einen zusätzlichen Namen: In einem Festakt wird ihm der Titel „Schule der Deutschen Einheit“ verliehen. Jugendliche aus Hessen und Thüringen besuchen die Einrichtung – und sehen das als völlig normal an. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist die Teilung Deutschlands für sie wirklich Geschichte.
1992 KAM DER ERSTE HESSE
Wie die „Schule der Deutschen Einheit“ entstand
Das Philipp-Melanchthon-Gymnasium in Gerstungen wurde 1991 gegründet, erhielt seinen Namen jedoch erst 2001. Zunächst besuchten es nur Kinder aus den umliegenden Orten, 1992 kam der erste Schüler aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg dazu. Seither ist die Zahl hessischer Schüler kontinuierlich gestiegen. Inzwischen machen die hessischen Jugendlichen etwa die Hälfte der Schüler aus.
Streit um Kosten
Die Entwicklung war nicht unumstritten: Es gab zum Beispiel immer wieder Auseinandersetzungen um Geld: Eltern aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg wollten zum Beispiel die Fahrtkosten von ihrem Heimatkreis als Schulträger erstattet haben. Auf der anderen Seite forderte der Wartburgkreis eine höhere Beteiligung des hessischen Nachbarkreises an den Gesamtkosten des Schulbetriebs.
2005 drohte gar die Schließung der Schule. Sie wurde abgewendet mit einem Kraftakt der Schulgemeinde, die Proteste, Demonstrationen und Konzerte organisierte und bundesweit Medien mobilisierte. Dabei stellten Eltern und Schüler demonstrativ den Einheitsgedanken in den Vordergrund – und gewannen. Der Wartburgkreis ließ die Schule schließlich unangetastet. Im Kreis Hersfeld-Rotenburg wurde auch im Zusammenhang mit dem Philipp-Melanchthon-Gymnasium über das Bildungsangebot gestritten: Es gab die gymnasiale Bildung damals erst ab Klasse 7. In den Klassen 5 und 6 wurden die Kinder ausschließlich an Förderstufen der Gesamtschulen unterrichtet. Eltern, die ihre Kinder bereits ab Klasse 5 zum Gymnasium geben wollten, wichen eben nach Gerstungen aus. Dort war zudem das Abitur in zwölf Jahren erreichbar.
Es herrscht Ruhe
Inzwischen ist es ruhig geworden. Nicht zuletzt, weil auch an Gesamtschulen des Kreises Hersfeld-Rotenburg gymnasiale Eingangsklassen eingerichtet wurden. Und das Abitur ist auch in Hessen in zwölf Schuljahren zu erreichen.
Dass hessische Schüler nach wie vor in Gerstungen zur Schule gehen, führt man in der Schule auf das „solide fachliche Wissen, das man an der Schule erwerben kann“, sowie auf das „im Schulleitbild niedergelegte klare pädagogische Konzept“ zurück, das da heißt: „Sich wohl fühlen und etwas leisten.“ So jedenfalls sollen sich Eltern und Schüler laut Homepage der Schule geäußert haben. (sis)
SCHÜLER DES PHILIPP-MELANCHTHON-GYMNASIUMS HABEN SICH MIT DER GRENZE BEFASST
Von Silke Schäfer-Marg
Gerstungen. Anna Lena Deist aus Solz ist ein echtes Einheitskind: „Ich bin froh, dass es die Grenze nicht mehr gibt. Sonst gäbe es mich ja gar nicht.“ Logisch, Anna Lenas Mama stammt aus dem Osten, der Papa aus dem Westen, erzählt sie.
Anna Lena besucht das Philipp-Melanchthon-Gymnasium im thüringischen Gerstungen. Die Schule also, deren 676 Schüler zur Hälfte aus Thüringen und zur Hälfte aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg kommen.
Die Teilung Deutschlands, die Wiedervereinigung vor 20 Jahren – für die Kinder ist das tatsächlich Geschichte. Während einer Projektwoche zu Beginn dieses Jahres haben sich die Jungen und Mädchen aus den Jahrgangsstufen 6 und 7 unter Leitung von Lehrerin Ingrid Mertens zusammengefunden und über ihre Heimatgeschichte geforscht. Was die Kinder von Eltern und Großeltern erfuhren, hat sie überrascht: „Ich hatte mir die Grenze harmloser vorgestellt“, sagt Benedict Eyrich aus Oberellen. „Ich dachte schon, dass man auch rübergehen konnte.“ „Ich dachte nicht, dass so viele Menschen gestorben sind, als sie über die Grenze wollten“, zeigt sich Sophia Bardt aus Ronshausen noch heute geschockt.
Elisabeth Schenk aus Bebra dagegen hatte schon zu Hause viel über die Grenze erfahren. „Meine Eltern haben Schlimmes davon erzählt. Ich habe mir die Grenze immer als riesige Mauer vorgestellt.“
Tim Fischer aus Vitzeroda hat sich vieles von seinem Vater erzählen lassen, der als junger Soldat die Grenze mit aufbauen musste. „Heute gehen wir ganz normal miteinander um. Man erkennt nicht, ob einer von uns aus dem Osten oder dem Westen kommt“, sagt Tim.
„Wir sind ja eigentlich ein Land“, ergänzt Anna Lena. Stimmt.
DIE EINHEIT IST GANZ NORMAL
Wenn junge Hessen und Thüringer etwas eint, dann ist es der distanzierte Blick auf die Vergangenheit: Die Teilung Deutschlands ist Geschichte, die man nur aus Erzählungen kennt. Das zeigen Nachfragen – unabhängig von der jeweiligen Schule der Befragten. Wenn die persönliche Betroffenheit da ist, wenn junge Leute zum Beispiel Teil einer einstmals zerrissenen Familie sind, ist das Interesse erfahrungsgemäß größer als bei anderen. Wir haben in Gerstungen eine Stichprobe in der Oberstufe gemacht.
MICHAEL KONRAD
Abschreckend,
war es, was zur Zeit der deutschen Teilung abgelaufen ist. ich kenne das alles nur aus Erzählungen und zum Teil aus dem Unterricht. Heute kann man sich nicht vorstellen, dass man nicht über die Grenze durfte. Michael kommt aus Bebra.
BASTIAN WITTICH
Gut,
dass man heute einfach entscheiden kann, auf welche Schule man gehen will. Für uns ist es kaum nachvollziehbar, dass früher keiner zwischen Hessen und Thüringen wechseln konnte. Bastian kommt aus Bebra.
FABIAN FOREJT
Freunde
habe ich in Hessen. Für mich wäre es unvorstellbar, sie nicht besuchen zu können. Meine Großeltern haben mir von der Grenze erzählt. Meine Mutter hatte einen schwierigen Schulweg, weil zwischen Gerstungen und Oberellen Sperrzone war. Fabian, Eckardtshausen
Quelle: HNA