Die Welt – online 25.02.2008

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SCHULFLÜCHTLINGE
BESSERE BILDUNG – WESTDEUTSCHE SCHÜLER PAUKEN IM OSTEN

 

25. Februar 2008, 17:30 Uhr
Von Nina Mareen Spranz

Jeden Morgen begeben sich hunderte hessische Schüler auf ihren Schulweg – nach Thüringen. Chaotische Zustände im eigenen Bundesland und die Aussicht auf ein schnelles Abitur lassen die Schüler über die Landesgrenze pendeln. Unter den zugereisten Gymnasiasten sind die Hessen mittlerweile die größte Gruppe.

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Foto: dpa

Tägliches Pendeln: Hunderte von hessischen Schülern gehen in Thüringen zur Schule und nehmen dafür weite Wege in Kauf

Gerstungen – Annalena und Anna-Lena sind zehn Jahre alt und wollen Reporterinnen werden, später, nach dem Schulabschluss. Seit vergangenem Sommer drücken die beiden die gleiche Schulbank in einem kleinen Ort in Thüringen, einen Steinwurf entfernt von der Grenze zu Hessen. Wenn alles so läuft, wie die beiden Mädchen sich das vorstellen, machen sie 2015 am Philipp-Melanchthon-Gymnasium (PMG) in Gerstungen ihr Abitur – in acht Jahren, wie es dort üblich ist. Für Annalena war das schon immer klar – sie ist eine waschechte Thüringerin. Anna-Lena hingegen ist das, was man bei ihr zu Hause hinter vorgehaltener Hand einen „Schulflüchtling“ nennt. Sie kommt aus Hönebach – in Hessen.

Die kleine Anna-Lena wollte nach der Grundschule nicht wie ihre Klassenkameraden in die hessische Förderstufe, sondern ins ostdeutsche Turbo-Gymnasium, gleichsam „rübermachen“ für die Bildung. Leicht war das nicht. „Meine Mutti war dagegen, sie dachte, das ist zu schwer und dass ich keine Freizeit mehr habe“, sagt Anna-Lena. „Aber ich hab sie überzeugt. Meine Cousine ist auch hier an der Schule und hat mir erzählt, wie toll es ist. Viel besser als zu Hause.“
Im gleichen Gebäude, in dem früher Einheiten der Stasi Telefone abhörten, herrscht heute die emsige Eintracht deutsch-deutschen Lerneifers. Man verfolgt ein gemeinsames Ziel. Etwas mehr als die Hälfte der 729 Schüler des Thüringer Gymnasiums stammt aus Hessen. Nach Angaben des Kultusministeriums Thüringen stellen die Nachbarn aus dem westdeutschen Bundesland mit 1125 Schülern die drittgrößte Gruppe der Bildungs-grenzgänger, nach Schülern aus Sachsen-Anhalt und Sachsen. Unter den nicht thüringischen Gymnasiasten repräsentieren die Hessen sogar die größte Gruppe. Und das, obwohl im eigenen Bundesland der Streit über das verkürzte Abitur in vollem Gange ist, viele Eltern, Schüler und Lehrer lieber heute als morgen zum Abitur in neun Jahren zurückkehren würden.
„Es gab und gibt drei Gründe für hessische Schüler, auf Thüringer Gymnasien zu wechseln“, sagt Ralf-Gerhard Köthe, Vorsitzender des Philologenverbandes des Landes und selbst Schulleiter eines Gymnasiums in Grenznähe. Zum einen sei der Ruf der Schule ausschlaggebend, zum anderen spiele die Verkehrsanbindung eine Rolle. „Der wichtigste Grund ist aber sicherlich, dass Schüler hier ihr Abitur in zwölf statt 13 Jahren ablegen.“ Organisiert und in wohldurchdachten Bahnen. Die Hessen profitieren dabei von der Erfahrung Thüringens mit dem schnellen Abitur (G8) und der Qualität der Ausbildung. Im landesweiten Pisa-Vergleich liegt das ostdeutsche Bundesland mit dem Turbo-Abitur im oberen Tabellenviertel nur knapp hinter Bayern. Was Köthe aber betonen will: „Thüringer Schüler sind weder klüger noch leistungsfähiger als andere Kinder und Jugendliche.“ Sie dienten eben aber auch nicht als Versuchskaninchen der Bildungspolitiker und müssten deswegen auch nicht auf Freizeit, Freunde oder Spaß verzichten.
Gerald Taubert nickt. Der Schulleiter des Philipp-Melanchthon-Gymnasiums (PMG) koordiniert ein Heer von 65 Lehrern, die von Klasse fünf bis zwölf die drei- bis fünfzügigen Stufen unterrichten. Neben dem Unterricht können die Schüler am Nachmittag, in ihrer Freizeit, aus einem reichhaltigen Aktivitätenprogramm wählen: Musik, Kunst, Sport, Naturwissenschaften, Fremdsprachen oder Schach. „Es ist alles da“, sagt Taubert, „und es wird viel und gern genutzt.“ Belastungen von 35 und mehr Wochenstunden, die von besorgten Eltern aus Hessen und anderen Bundesländern gemeldet werden, gibt es in Gerstungen nicht. überhaupt fängt erst ab der Klassenstufe sieben der Nachmittagsunterricht an, einmal in der Woche. Vorher sind Tage mit sechs Schulstunden Standard. Das erfordere Disziplin und Engagement von Schülern, Lehrern und auch Planern. „Es gibt hier keinen Unterrichtsausfall“, sagt Taubert. „Unsere Schule ist kein Spaziergang, das ist eine Leistungsschule.“ Aufstehen zur Begrüßung des Lehrers am Beginn jeder Unterrichtsstunde gehört am PMG genauso dazu wie ein Anzug in der Abiturprüfung. Dennoch sollen sich die Schüler wohlfühlen – und offensichtlich tun sie das auch: Das Gymnasium genießt über Kreis- und Landesgrenzen hinweg einen sehr guten Ruf – auch und gerade bei den Schülern.
Mit diesem Wissen im Rücken kann sich Schulleiter Taubert über vieles nur wundern: Darüber, dass vor der Einführung des verkürzten Abiturs in Hessen niemand kam, sich das Thüringer Modell anzuschauen. Darüber, dass die hessischen Schüler in ihrem Bundesland schräg angeschaut und öfter mal als „Streber“ bezeichnet werden, weil sie als Wessis unerhörterweise den Osten und sein Bildungssystem vorziehen. Am meisten wundert sich Taubert aber immer noch darüber, dass sein Vorzeigegymnasium vor drei Jahren vom Land Thüringen geschlossen werden sollte. Schuld war die Invasion der Nachbarn: Zu viele hessische Bildungsflüchtlinge mit zu viel Bildungshunger, doch zu wenig Geld, um ihn zu stillen. Der Kreis hatte Angst, finanziell auszubluten. Denn: „Die Schüler zahlen keine Gastschulbeiträge, Geld fließt höchstens über den Länderfinanzausgleich“, erklärt Taubert. Während die Betroffenen des PMG angesichts der drohenden Schließung zunächst in Entsetzen erstarrten, frohlockten Politiker in Ost und West seinerzeit in ungekannter Eintracht. Die einen, weil sie die anderen nicht mehr hätten finanzieren müssen. Die anderen, weil sie dem ureigenen Nachwuchs nicht länger tagtäglich ungehindert beim Rübermachen hätten zusehen müssen.
„Ihr seid Hessen, ihr geht in Hessen zur Schule“, das sei häufiger zu hören gewesen, erzählt Tim Becker, 15 Jahre alt, Schüler der neunten Klasse, Hesse. Nachdem sein älterer Cousin von „chaotischen Zuständen“ in der heimischen Förderstufe berichtet hatte, wurde auch Tim Wahl-Turbo-Schüler und ist sehr dank-bar, dass Gerstungen schließlich durch die massiven Proteste von Lehrern, Eltern und Schülern gerettet wurde. Doch weil die Schule nach wie vor vielen ein ärgernis ist, hagelt es Auflagen.
Pro Jahrgang darf die Schule nur noch 90 Schüler aufnehmen, die Hälfte davon muss aus Thüringen stammen. „Bei der hessischen Hälfte wird gelost, falls sich zu viele qualifizierte Schüler anmelden wollen. Das tut ganz schön weh“, klagt Björn Becker. Er ist der Schülersprecher des PMG und – na klar, ein Hesse. Kostenzuschüsse zu den Fahrkarten bekommen die Hessen fast nie, morgens ist in den Zügen dicke Luft. Die Verkehrsgesellschaft Cantus, die die Strecke zwischen Bad Hersfeld und Gerstungen bedient, setzt nur drei statt der für die knapp 400 Schüler benötigten vier Waggons ein. Unangenehm, sicher, aber vielleicht schult es das Durchhaltevermögen, das die Schüler brauchen. „In einem Gymnasium sollte ein gewisser Anspruch herrschen. Daran muss man sich als Schüler gewöhnen, ein bisschen mehr zu machen. Wir bekommen hier die allgemeine Hochschulreife, das soll auch etwas wert sein“, sagt Björn.
Beim Blick nach Hessen geht Schulleiter Taubert einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach: Er wundert sich, sehr. „Darf Schule denn heutzutage überhaupt noch leisten, was sie leisten soll?“ Vorbereitung auf den Job, auf die Leistungsgesellschaft, auf das Leben? Fragend schaut er auf Günter Breitbart, seinen langjährigen Elternsprecher aus Hessen. Dessen Sohn Philipp hat am PMG mit 17 Jahren und einem Einser-Schnitt Abitur gemacht, heute studiert er Medizin in Tübingen. „Er kommt dort sehr gut klar, das macht mich stolz“, sagt Breitbart. Das schnelle Abitur und der Leistungssport, den sein Sohn betrieben hat, hätten ihn gelehrt, sich gut zu organisieren. Ein Riesenvorteil sei das gewesen, sagt Breitbart, weil es seinen Jungen schnell selbstständig gemacht hat. Breitbart war früher für die Lehrerausbildung zuständig und ein glühender Verfechter der Gesamtschule. Aber Philipp begann sich dort zu langweilen, deshalb wechselte er in der siebten Klasse nach Gerstungen. „Das war für ihn das Richtige“, sagt er. „Sein alter Schulleiter wollte ihn aber zunächst nicht gehen lassen.“ Ein Schlüsselerlebnis für Breitbart, der heute sagt, dass vor allem die fehlende Kooperation zwischen den Schulformen und Bundesländern die Schüler kaputt macht. „Wenn es keine Alternative gibt, ist der Absturz der Schüler doch vorprogrammiert“, sagt er und bezieht das sowohl auf die Kinder, die es am Gymnasium in Thüringen nicht schaffen, als auch auf solche, die sich in der integrierten Gesamtschule in Hessen zu Tode langweilen. „Kinder dürfen nicht das Opfer mangelnder Kooperation sein“, sagt er und blickt zurück zu Direktor Taubert. Der nickt zwar, zuckt aber gleichzeitig ein wenig resignierend mit den Achseln. Denn trotz des G8-Debakels im Nachbarland – den Anruf eines Schulleiters aus Hessen, den hat er bis heute nicht bekommen. „Man kann sich eben nur wundern“, sagt Taubert.
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