TA am 07.03.08

ANSTURM AUS HESSEN

QUELLE TA THÜRINGEN
07.03.2008 VON ANGELIKA REISER-FISCHER

Zwölf oder 13 Jahre bis zum Abitur? Während sich die Kultusminister darüber fetzen, machen sich hessische Schüler ganz selbstverständlich allmorgendlich auf den Weg ins thüringische Gerstungen, manche fahren 90 Kilometer am Tag, um im Melanchthon-Gymnasium zu lernen. Auch Eltern schätzen die Schule, weil man dort, anders als in Hessen, sein Abitur in zwölf Jahren schaffen kann.

GERSTUNGEN. “Das Haus sieht wie ein Bahnhof aus.” So beschreibt eine Frau in Gerstungen, woran man die Schule im Ort erkennt. Sehr treffend. Denn direkt am Melanchthon-Gymnasium rauschen die Züge von Eisenach nach Hessen vorbei. Früher war es jenes Gebäude, von dem aus die Kontrollen an der innerdeutschen Grenze stattfanden. Einschließlich Abhörens des Ost-West-Telefonverkehrs.

Heute begegnen sich an diesem Ort thüringische und hessische Schulkinder. Es ist wie ein Symbol. Und doch sind durchaus nicht alle darüber nur froh.

Morgens kurz nach sieben biegt der Schulbus aus dem Wartburgkreis um die Ecke – und gleichzeitig eine Flotte von zehn Kleinbussen aus den hessischen Nachbarorten. Gechartert und natürlich auch bezahlt von engagierten und interessierten Eltern. Sie fasziniert an der Thüringer Schule, was nicht nur in ihrem Bundesland die Politik derzeit nahezu zerreißt: 12 Jahre bis zum Abitur.

Alle Bundesländer, außer Rheinland-Pfalz, schwenken bis 2009 um, nachdem in den 90er Jahren allein Thüringen und Sachsen an dem Modell festhielten. In Hessen, heißt es, habe die Debatte die CDU den Wahlsieg gekostet. Die Kultusministerin musste gehen. Und auch in Hamburg wird manches am Wahlausgang dort diesem Thema zugeschoben: G 8. Zu deutsch: Grundschule plus acht Schuljahre. Pisa-Experten machten Deutschland schon vor Jahren klar, dass daran nichts vorbei führt. Doch je verpflichtender es in Hessen wurde, desto mehr wuchsen Widerstände.

383 der 722 Schüler des Gymnasiums kommen aus Hessen, nur 339 aus Thüringen. Auch fünf der 64 Lehrer wohnen in Hessen.

Schulleiter Gerald Taubert kennt nahezu unendliche Geschichten über den Ansturm auf seine Schule. Seit Jahren gibt es den aus den Nachbarorten jenseits der Landesgrenze: aus Herleshausen, Wildeck, Rothenburg, Heringen, Hünfeld, Eschwege, Sontra, Bebra, Nentershausen . . . Bis 90 Kilometer fahren einige seiner Schüler zum Unterricht.

Die Schule hat einiges zu bieten. Englisch oder Französisch als zweite Fremdsprache ab 5. Klasse, eine dritte ab Klasse 7, zusätzlich naturwissenschaftliche Kurse, warmes Mittagessen, Schülercafé, Nachmittagsangebote und natürlich Abitur nach zwölf Schuljahren.

Günter Breitbart wohnt im hessischen Wildeck. Sohn Philipp hat im Sommer in Gerstungen Abitur gemacht. Mit 17, also ein Jahr vorfristig, und einem Durchschnitt von 1,1. “Die haben hier seit Jahren Erfahrung mit den zwölf Jahren, sind bestens organisiert, fördern jedes Kind”, sagt Herr Breitbart anerkennend. Er ist stolz, wie gut sein Sohn inzwischen beim Medizin-Studium in Freiburg klar kommt. Für den Streit in Hessen um G 8 hat er null Verständnis.

Nur langsam komme man mit der verkürzten Schulzeit an den hessischen Gesamtschulen voran, nebenan etwa in Heringen und Rothenburg oder den Gymnasien in Hünfeld und Eschwege. Eltern seien arg verunsichert, Schulen offenbar zu bequem für Veränderungen und das Land zu geizig, um in Mittagsversorgung, neue Lehrpläne, Konzepte zu investieren. Stattdessen werde einfach Unterricht in Klasse 5 und 6 zusammengedrängt. Und schon werde geklagt, die Kinder seien überfordert. “Unsinn”, kontert Direktor Taubert aus eigener, Thüringer Erfahrung. Kinder am Gymnasium wollten gefordert werden und man könne künftige Akademiker nicht im Kuschelkurs ausbilden.

Noch 2005 stritt der Kreistag des Wartburgkreises erbittert. Die Abgeordneten sahen es gar nicht ein, warum Thüringen so vielen hessischen Kindern den Schulbesuch bezahlen sollte und hätten das Gymnasium Gerstungen am liebsten geschlossen. Seitdem gibt es hier eine Begrenzung der Schülerzahl. Wie sie durchgesetzt wird, ist Sache der Schule.

Die aber fühlt sich überfordert. Denn es darf laut Kreistagsbeschluss pro Klassenstufe nur noch drei statt vier Klassen geben. Alle Thüringer Kinder müssen genommen werden. Die noch freien Plätze werden per Los an die Hessen vergeben. “Dann bricht jedes Mal die Katastrophe aus”, sagt Taubert.

90 Plätze hat er dieses Jahr zu verteilen, 119 Anmeldungen liegen vor. 66 Thüringer Kinder muss er eh aufnehmen. Zuerst kommen dann hessische Geschwisterkinder an die Reihe. Danach wird gelost. Zehn aus 39 hieße das Glücksspiel für hessische Kinder in diesem Jahr, so der Schulleiter.

Die Schule will es am liebsten vermeiden. Sie hat vorige Woche beim Landrat beantragt, im nächsten Jahr ausnahmsweise wieder vier neue 5. Klassen einrichten zu dürfen. Denn es tut Tauberts Pädagogen-Seele zutiefst weh, was sonst passiert. Er weiß aus vergangenen Jahren: Da gibt es Kinder, die sich von der Grundschule schon kennen, aber plötzlich werden aus der Clique zwei nicht genommen und die anderen treten dann solidarisch auch zurück. Es gibt Streit, Enttäuschung, Unverständnis, Tränen, auch Widerspruchsverfahren der Eltern. Das ganze Programm. Und dann kommen die Nachrücker und die haben auch wieder Freunde. . . “Juristisch vielleicht korrekt, aber pädagogisch und psychologisch völliger Mist”, ist Taubert wütend, der sich mit dem Problem allein gelassen fühlt.

Folgen eines Föderalismus. Er überwinde nur mühsam Grenzen. Mitten in Deutschland. Dabei möchten diese Kinder zwischen Eisenach und Bad Hersfeld eigentlich nur eines: in Ruhe zusammen lernen.