Das Philipp-Melanchthon-Gymnasium 1991 – 2005

Der Fall der innerdeutschen Grenze war für eine kleine, aber zahlenmäßig schnell wachsende Gruppe von zumeist ehemaligen Gerstunger Schülern – von Anfang an aus Ost und West – das Signal, sich für die Wiedereröffnung der 1982 geschlossenen EOS einzusetzen. Es ist dieser Gruppe um Margit Trümper, Ursula Haas, Wolfgang Bogen und Jürgen Nehrdich für ihre vielfältigen Bemühungen zu danken, welche schließlich zur Eröffnung unseres Gymnasiums am 30. August 1991 führten.


Die mit der Leitung der Schule betraute Direktorin, Frau Ingrid Hofmann, sagte in ihrer Antrittsrede: „Wir wissen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt, um unserem Gymnasium das Profil zu geben, das es bestehen lassen wird und das für unsere Schüler die Garantie für eine umfassende Ausbildung und Vorbereitung auf die berufliche Entwicklung bieten kann.“

Die Einladung zur Festveranstaltung enthielt als Motto den Ausspruch Senecas „SUBSILIRE IN CAELUM EX ANGULO LICET“, der heute jedem, der das Atrium des Gymnasiums betritt, ins Auge fällt.

 

 image014

 

Aus diesen Worten klangen Wissen um die Kompliziertheit der anstehenden Aufgabe, Bereitschaft diese in Angriff zu nehmen und die Zuversicht dass das Vorhaben gelingt.

 

Der „kleine Winkel“ war zunächst das ehemalige Zollgebäude in der Gartenstraße, das in nur fünf Monaten zu einer „für jedermann offenen“ (I. Hofmann, Festansprache v. 30.8.1991) Schule umgebaut wurde. Baulärm begleitete den Unterricht fast sechs Jahre lang. Es entstand schließlich ein attraktives Schulgebäude mit modernster Ausstattung an Unterrichtsmitteln. Zwischenzeitlich konnten die Räumlichkeiten die angemeldeten Schüler nicht alle aufnehmen, es kam zur Auslagerung des Unterrichts in das Gebäude der Grundschule Dankmarshausen, und als weitere Notlösung erfolgte die Aufstellung von Klassencontainern, welche zunächst skeptisch beäugt, vier Jahre später aber nur ungern wieder abgegeben wurden.

 

In dem „kleine Winkel“ wurden im September 1991 228 Schüler von 22 Lehrerinnen und Lehren unterrichtet. Die Schülerschaft kam nicht wie bei Gründung der Schule 1905 aus dem hessisch-thüringischen Werragebiet, sondern vorerst nur aus den Thüringer Dörfern rund um Gerstungen. Das sollte sich bald ändern, denn das junge Gymnasium erwarb sich auf Grund der hier geleisteten Arbeit schnell einen guten Ruf, der auch in Hessen Widerhall fand: 1992 kam mit Philipp von Trott zu Solz der erster Schüler aus dem benachbarten Kreis Hersfeld-Rotenburg an unsere Einrichtung. Ihm folgten viele weitere. Heute werden im PMG 733 Schüler aus Orten von 55 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet, unsere Schule wurde zu einem Bindeglied zwischen Ost und West.

Fragt man Schüler und ihre Eltern nach den Gründen für die Schulwahl, dann wird zuerst das solide fachliche Wissen genannt, das man sich in Gerstungen erwerben kann, gefolgt von dem im Schulleitbild („Sich wohl fühlen und etwas leisten“) niedergelegten klaren pädagogischen Konzept, dem breiten Angebot an Fremdsprachen und der Tatsache, dass der Unterrichtsstoff durch vielfältige außerunterrichtliche Angebote erweitert und vertieft werden kann. Dazu gehören seit 1995 Studienfahrten, die ihrem Namen alle Ehre machen, seit 1996 Betriebspraktika der 10. Klassen, seit 1992 Projektwochen, seit 1993 der Schüleraustausch mit dem holländischen „Monica de Mendoza Lyceum“ in Breda und seit 1995 mit dem Collège „Morvan Lebesque“ in Mordelles (Frankreich), seit 1999 das Skilager der 7. Klassen, seit 2003 die Schuljugendarbeit, und auch die Teilnahme an Schülerwettbewerben und Olympiaden ist für Gerstunger Schüler eine Selbstverständlichkeit. Im Schulhaus ist so manche Erfolgsstory dokumentiert.

 image015

„Was uns ein Holzkreuz zu sagen hat“ – Geschichtsprojekt  zum Thema Widerstand im 3. Reich

 

Ihren Beitrag zur allseitigen Bildung leisten die „Tage der offenen Tür“ oder seit 2002 die mittlerweile traditionellen „Melanchthontage“. In besonderer Weise trägt auch der 1997 in Thüringen eingeführte Seminarfachunterricht zur wissenschaftlichen Bildung bei. Unser Gymnasium gehörte zu den wenigen Schulen, in denen dieses Fach erprobt wurde. Eine Vielzahl von Arbeiten Gerstunger Schüler hat eine hohe Qualität und zeugt von der erreichten Studierfähigkeit unserer Abiturienten.

All diese Angebote werden von den hier Lernenden gern angenommen und gehören zu dem – mittlerweile gefundenen und gefestigtenProfil der Schule, das in der Eröffnungsrede zur Sprache kam.

Der „kleine Winkel“ ist außerdem aus dem kulturellen Leben der Gemeinde Gerstungen und der Region nicht mehr weg zu denken. Das Atrium wurde – das ist in weiten Teilen der Unterstützung des Schulfördervereins und örtlicher „Kulturfans“ zu danken – Ort für Chorabende, Aufführungen der Theatergruppe, Schulgottesdienste, Lesungen oder Foren zu den unterschiedlichsten Themen. Auf unsere Schülerzeitung „Phönix“ wartet man inzwischen fast so gespannt wie auf das Werrablättchen.

Schüler, Lehrer, Eltern oder Besucher, aber auch Gastschüler aus aller Herren Länder, hier eingesetzte Praktikanten und Sprachassistenten schätzen außerdem die besondere Gerstunger Atmosphäre, das „Gerstunger Klima“, ein Klima des Miteinander, der Kreativität, des Engagements, der Hilfsbereitschaft und eines niveauvollen Umgangs miteinander, ein Klima, das man in nur wenigen Schulen so vorfinden würde. Der „kleine Winkel“ ist zu einer guten Adresse in Sachen Bildung geworden!

 

Vor diesem Hintergrund hatte man hier durchaus Grund zum Feiern – so geschehen 2001, als unserem Gymnasium anlässlich seines 10jährigen Bestehens der Name „Philipp Melanchthon“ verliehen wurde.

Und für jedermann war klar, dass die größere Feier 2005 stattfinden würde, dem Jahr, in dem Gerstungen das 100jährige Jubiläum seiner  Höheren Schule begehen würde. Ein Festkomitee nahm im Winter die Arbeit auf, es wurden Pläne geschmiedet, allerorten begann die Suche nach Klassenfotos oder Telefonnummern von ehemaligen Mitschülern und Lehrern, es erfolgten Absprachen mit der Regelschule und kreislichen Behörden, es entstanden Entwürfe für Einladungen und vieles mehr…

Doch dann wurde am 20. April 2005 durch die „Südthüringer Zeitung“ das Unfassbare vermeldet: Die noch nicht bekannt gegebene Schulnetzplanung des Wartburgkreises beinhaltete auch die Schließung des Philipp-Melanchthon-Gymnasiums. Wieder – wie auch schon 1982 – platzt die Meldung über Schließungsabsichten in eine Feierstimmung, wieder herrscht im Gerstunger Raum und darüber hinaus das blanke Entsetzen über so wenig Feinfühligkeit, so wenig Bereitschaft, Gutes zu erhalten und zu pflegen, über so viel Arroganz der Macht…

Wieder wird nicht an die Schüler gedacht – aus welchen Gründen auch immer. Damals waren die Betroffenen machtlos und schwiegen in den meisten Fällen, an Protest war zu Zeiten der DDR-Diktatur nicht zu denken, 2005 war es anders…

 image016

TA, 22.04.2004

Es regte sich schon in der Nacht zum 21. April der Widerstand, Mails sausten durch das Internet, erste Aktionen wurden geplant und es begann ein Kampf für den Fortbestand unserer Schule, wie ihn der „kleine Winkel“ und mit ihm das Werratal noch nicht gesehen hatten. An dieser Stelle soll den engagierten Eltern und Schülern gedankt werden, ohne deren Ideen, Mut und Durchhaltevermögen diese Schule heute wohl nicht mehr existieren würde. Dabei wurde zwar auch deutlich, dass „Wessis“ den „Ossis“ in Sachen demokratisches Aufbegehren ein Stück voraus waren, doch wurden schließlich alle mitgerissen, und als am 06.07.2005 nach 22.00 Uhr die Eltern, Schüler und Lehrer, welche an der schicksalhaften Kreistagssitzung teilgenommen hatten, mit der erlösenden Botschaft nach Gerstungen kamen, brach nicht der große Jubel aus – es herrschte vielmehr ein Gefühl der Erleichterung und Genugtuung. Eine ganze Region hatte dafür gesorgt, dass die Mauer nicht wieder aufgebaut werden konnte.

Wohl vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wählte Direktor Gerald Taubert anlässlich der Eröffnung des Schuljahres 2005/2006 einen Ausspruch des amerikanischen evangelischen Theologen und Sozialethikers R. Niebuhr als Jahresmotto aus:

 

DER SINN DES MENSCHEN FÜR GERECHTIGKEIT

MACHT DIE DEMOKRATIE MÖGLICH,

DIE NEIGUNG DER MENSACHEN ZUR UNGERECHTIGKEIT

MACHT ABER DEMOKRATIE NÖTIG.

 

Ingrid Mertens

sc3

 sc5 sc2 sc4 sc1